Zum Vortrag
Wie es ist, ein süchtiges Familienmitglied zu haben, weiß nur jemand, der es selbst erlebt hat“
Die Veränderung eines Kindes, das süchtig wird, trifft die Eltern sehr schmerzvoll.
Es beginnt ganz langsam und fällt meist in die Zeit der so genannten „ Flegeljahre“, der Pubertät.
Es ist die Zeit, in der der Einfluss des Elternhauses geringer wird und die Maßstäbe der Gleichaltrigen wichtiger werden als die Mahnungen der Eltern.
Obwohl diese Eltern mit Sorge das Treiben des Jugendlichen beobachten, wollen sie nicht wahrhaben, dass auch Rauschmittelkonsum hinter manchen Veränderungen stecken kann.
Erst wenn das Verhalten des Kindes immer unverständlicher wird,
seine Reaktionen,
seine Interessen,
sein Äußeres, sein Freundeskreis sich total verändert,
die Leistungen in der Schule nachlassen,
wenn der Jugendliche abends nicht nach hause und morgens nicht
aus dem Bett kommt,
der sonst so offene Blick unstet und fahrig wird
beginnen die Eltern Verdacht zu schöpfen.
Sie stellen Fragen und erhalten ausweichende Antworten, sie suchen nach Beweisen im Chaos des Zimmers.
Es wird zur Gewissheit: Mein Kind nimmt Drogen!
„Mach Dir keine Sorgen, ich habe alles total im Griff“, ist die Antwort, die Eltern gar zu gerne hören.
Trotzdem schwanken sie
zwischen Vertrauen und Kontrolle,
zwischen Festhalten und Loslassen,
immer die Schreckensbilder vor Augen, die man aus den Medien
kennt.
Gleichzeitig kommen hier die quälenden Gedanken
Was ist wohl schief gelaufen?
Haben wir uns zu wenig gekümmert oder zuviel Verwöhnung geboten?
Drogensüchtige kommen nicht nur in so genannten asozialen oder in gestörten Familienverhältnissen vor.
Diese Vorurteile der Gesellschaft verführen dazu, unter allen Umständen zu verhindern, dass jemand davon erfährt.
Eltern sind ständig hin und her gerissen
zwischen dem Gefühl der Verantwortung,
der eigenen Schuld,
und der entsetzlichen Hilflosigkeit.
Von ihren Kindern werden sie belogen oder als „völlig hysterisch“ beschimpft.
Gleichzeitig werden sie mit immer größer werdenden Forderungen konfrontiert.
Sie reagieren völlig falsch und inkonsequent.
Es werden harte Verbote ausgesprochen,
deren Einhaltung nicht durchgesetzt wird.
Sie bezahlen angelaufene Schulden,
schreiben Entschuldigungen für die Schule
oder dem Ausbilder um Schlimmeres zu verhüten
Eltern und Angehörige zeigen ein uneinheitliches Verhalten, sodass der Jugendliche einen gegen den anderen ausspielen kann.
Den Vater gegen die Mutter oder
beide gegen die Oma.
Gleichzeitig werden andere Schuldige für das Abgleiten des Kinds gesucht.
z.B. der schlechte Freund,
der ungerechte Lehrer oder Ausbilder, und
der böse Dealer.
So werden Eltern erpressbar für die unersättlichen Forderungen des Süchtigen. Die ganze Familie gerät in den Strudel, in dessen Mittelpunkt der Süchtige steht und die Hilfe und Aufmerksamkeit konsumiert wie seine Droge.
Die Bedürfnisse der anderen Familienmitglieder oder gar die eigenen werden nicht mehr wahrgenommen.
Alle leben in völliger Abhängigkeit von dem jeweiligen Befinden des Süchtigen.
Sie sind am Ende ihrer Kraft, fühlen sich verzweifelt und ohnmächtig, weil sie überhaupt nichts ausrichten.
Jetzt erkennen sie, zumeist die Mütter, dass sie Hilfe brauchen.
Sie überwinden ihre Scham und suchen eine Beratungsstelle auf. Dort erfahren sie, dass es eine Selbsthilfegruppe für betroffene Eltern gibt.
Als Ende der 60er Jahre die ersten Drogen Deutschland überschwemmten, gab es noch keine Drogenhilfe.
Die Eltern waren die ersten,
die Alarm schlugen und nach Hilfe suchten.
Sie wurden sowohl von der Fachwelt wie auch von der Öffentlichkeit als „Mitverursacher“ der Sucht ihrer Kinder abgestempelt und von allen Behandlungsversuchen mit Abhängigen ausgeschlossen.
In dieser verzweifelten Situation schritten die Eltern zur Selbsthilfe.
1969 wurde der erste Elternkreis in Bonn gegründet.
Hilfe zur Selbsthilfe
1973 schlossen sich 15 Elternkreise zum Bundesverband der Elternkreise drogengefährdeter und drogenabhängiger Jugendlicher zusammen.
Im Jahr 1980 erstand zuerst der EK Singen, es folgte der EK Konstanz und zuletzt wurde daraus der EK Singen-Radolfzell-Konstanz. Er ist der Landesvereinigung B/W angeschlossen
Wir treffen uns im MGH in Radolfzell. Über unsere Tätigkeit möchte ich einiges berichten.
Meist überweisen die Drogenberatungsstellen Rat suchende Eltern an die Elternkreise. Die „Professionellen“ schätzen inzwischen unsere Arbeit, die zu leisten sie auf Dauer nicht in der Lage sind,
nämlich die aus eigener Betroffenheit gewachsene verständnisvolle Begleitung der verzweifelten Eltern
aus Leid und Hilflosigkeit,
das behutsame Eingehen auf ihre Ängste,
das Auffangen ihrer Sorgen und
die Vermittlung von Geborgenheit.
Das A und O dieser Elternkreise ist der Erfahrungs- und Leidensaustausch betroffener Menschen.
Eltern lernen, dass Sucht kein Randgruppenproblem ist, sondern viele Ursachen hat.
„ Aus ganz normalen Familien kommen ganz normale Süchtige.“
Ferner lernen sie, dass sie nicht den Süchtigen ändern können, wohl aber ihr eigenes Verhalten, und dazu benötigen sie Hilfe.
Im Elternkreis fühlen sich Eltern getragen und verstanden.
Sie helfen sich gegenseitig
Gelassenheit zu bewahren,
die Hoffnung nie zu verlieren im Auf und Ab der Suchterkrankung ihres Kindes,
gemeinsam die Sucht und Cleanphasen zu durchleben,
die Therapiebereitschaft sowie den Th.-Abbruch,
Die Kriminalität und den Gefängnisbesuch,
Krankheit und Tod
sowie Hoffnung und Trauer.
Die Lernphasen der Eltern sind unterschiedlich. Im allgemeinen gesehen ist es Schwerstarbeit, denn wer begreift, dass, wenn ich helfen will, gar nichts tun sollte.
Irgendwann, die Zeit bestimmen die Eltern selbst, können Eltern Abschied nehmen von dem verständlichen Wunsch, den Lebensweg ihrer Kinder lenken und ihnen viel Leid und Irrwege ersparen zu können.
Sie begreifen, dass die Elternrolle nur eine begrenzte Aufgabe in ihrem Leben ist, und dass auch Eltern ein Recht haben, ihr eigenes Leben zu leben und zu gestalten, ganz egal wie sich das betroffene Kind entscheidet.
Erst wenn Eltern sich befreit haben von der ungesunden Abhängigkeit des Süchtigen, gewinnen Sie Kraft. eine neue Ebene der Beziehung zu ihrem Kind aufzubauen.
Immer wieder erleben wir es wie ein Wunder, unser Kind begreift seine Eigenverantwortlichkeit und entdeckt seine verschütteten Fähigkeiten, die ihm den Weg aus der Sucht in ein freies, unabhängiges Leben weisen können.
Selbsthilfegruppen sind heute eine wichtige Säule unseres Sozial- und Gesundheitssystems.
Allerdings können und sollen Selbsthilfegruppen keine Leistungen im Gesundheits- und Sozialbereich einsparen helfen.
Sie sind kein Ersatz für die
professionelle, therapeutische Behandlung durch Fachleute,
sondern sinnvolle Ergänzungen.
Die Arbeit der Selbsthilfegruppen hat in unserer heutigen Gesellschaft einen großen Stellenwert.
Und ich möchte meinen Vortrag mit zwei wunderbaren Sätzen beenden:
Die ehrenamtlich engagierten Menschen sind die wahren Leistungsträger eines sozialen Staates.
Die Währung der Bürgerarbeit ist nicht der Euro,
sondern die öffentliche Anerkennung.
Renate Auer,
Mitglied der Lenkungsgruppe
„Suchthilfeverbund im LA Konstanz“