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- „Ich konnte ihm nicht helfen“: Mutter erzählt, wie ihr Kind an Drogen starb
Es ist ein kalter, nebliger Wintermorgen, an dem Anja ihre Geschichte mit uns teilt: die Geschichte einer verwaisten Mutter, die ihr Kind an Drogen verloren hat. Eine Mutter, die teils ohnmächtig zusehen musste, wie sich ihr Sohn selbst zerstörte, kämpfte und am Ende doch verloren hat. Nico wurde 23 Jahre alt.
Es sind zweieinhalb Jahre vergangen seit Nico starb und noch immer ist Anjas Schmerz unbegreiflich groß. „Die Trauer zerreißt dich und sie belastet dein Leben“, sagt sie. „Und sie wird mit der Zeit nicht weniger. Du musst lernen, damit umzugehen.“
Beruhigungsmittel mit hohem Suchtpotenzial
Anja, die ihren Nachnamen für sich behalten will, geht den Schritt an die Öffentlichkeit nicht, um Mitleid zu erzeugen: „Ich will warnen, den Blick schärfen und darauf hinweisen, welche Gefahr durch den Missbrauch von Benzodiazepinen ausgeht.“ Denn dieses stark süchtig machende Medikament hat nicht nur Nico im Zusammenspiel mit anderen Substanzen den Tod gebracht.
Was sind Benzodiazepine?
Laut Bundesgesundheitsministerium sind in Deutschland schätzungsweise 2,3 Millionen Menschen medikamentenabhängig. Man geht außerdem davon aus, dass sogar bei etwa 2,9 Millionen Menschen in Deutschland ein problematischer Medikamentengebrauch vorliegt.
LKA beobachtet aufsteigenden Trend
Das baden-württembergische Innenministerium warnt vor der besonders gefährlichen und unkalkulierbaren Wirkung beim Konsum von Heroin, Kokain, Benzodiazepinen oder Drogenersatzstoffen mit anderen Drogen, Medikamenten oder Alkohol. Nach Angaben des Landeskriminalamts (LKA) Stuttgart starben im Jahr 2023 in Baden-Württemberg daran 29 Menschen. Und für 2024 sei ein steigender Trend zu beobachten.
„Nach Substitutionsmitteln (bei einer Drogenersatztherapie verordnete Medikamente) waren Benzodiazepine und Kokain in Baden-Württemberg im Jahr 2023 die zweittödlichsten Drogen“, schreibt das Innenministerium in einer Pressemitteilung.
Bei Angststörungen im Einsatz
„Dabei putschen Benzodiazepine gar nicht auf oder verschaffen den Konsumenten einen Kick, sondern werden häufig in funktionaler Absicht genommen“, erklärt Professor Uwe Herwig, Ärztlicher Direktor am Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie (ZfP) Reichenau. Beispielsweise um von anderen Drogen „herunterzukommen“, im Alltag zu entspannen oder in Selbstmedikation bei Angststörungen und Depressionen.
Professor Uwe Herwig erklärt, wie Benzodiazepine wirken. (Foto: ZfP) Wie Nico süchtig wurde? Anja weiß es nicht genau – kann es nur vermuten: „Vielleicht übers Kiffen? Oder er ist nach dem gemeinsamen Probieren von berauschenden Mitteln mit Freunden hängen geblieben?“ Als ihr Verhältnis immer schwieriger wird, glaubt sie zunächst, die Pubertät schlage zu. „Nico wurde immer abweisender.“ Anstatt an gemeinsamen Mahlzeiten oder Familienaktivitäten teilzunehmen, zieht er sich in sein Zimmer zurück. „Ich wusste nicht mehr, wie ich mit ihm umgehen sollte“, erinnert sich Anja. „Zumal er sich uns gegenüber so kalt und emotionslos gab.“
Der Anruf, der alles verändert
Erst als Nico auszieht, entspannt sich die Situation. Er gründet gemeinsam mit einem Kumpel eine WG in Markdorf. Anja wähnt ihren Sohn, der eine Ausbildung zum Industriemechaniker begonnen hat, auf einem guten Weg, bis im November 2019 an einem Abend das Telefon klingelt.
„Ich bekam einen Anruf von Nico. Er brauche Hilfe. Ich hörte, dass er nicht richtig sprechen konnte. Er lallte nicht – es war anders“, erinnert sich Anja. Sie macht sich auf den Weg. Holt ihn ab. Er erklärt, dass er Drogen nimmt und ihm der Dealer weggebrochen ist. „Als Mama bist du da erstmal im Schock“, erzählt sie mit brüchiger Stimme. Nico ist damals 20 und bereits seit vier Jahren süchtig.
Die Drogen haben ihr Nico genommen: Auf dem Friedhof kann Anja mit ihrem verstorbenen Sohn in Kontakt treten. (Foto: Sandra Philipp) „Im Nachhinein passen viele Puzzleteile zusammen“, sagt Anja. Wie zum Beispiel die ganzen Pakete, die er immer bekommen hat, als er noch zu Hause wohnte. Grundsätzlich spielt das Darknet eine große Rolle bei der Beschaffung von Drogen und Medikamenten, bestätigt das LKA. Dies ist ein Teil des Internets, das nicht über herkömmliche Suchmaschinen zugänglich ist und seinen Nutzern ermöglicht, ihre Identität und Aktivitäten zu verschleiern.
„Der Schwarzmarkt hat sich in den vergangenen Jahren ins Internet verlagert“, bestätigt auch Christof Hundler, der als Suchtberater bei der Caritas Bodensee-Oberschwaben arbeitet. „Dort bekommt man alles, ohne sich, wie das früher üblich war, in der Drogenszene durchfragen zu müssen.“
Viele Medikamente kommen über den Postweg – Christine Straß
In der ZDF-Dokumentation „Provinz im Rausch: Benzos in der Westpfalz“ berichtet ein Süchtiger, wie einfach man an Stoff kommt. „Du öffnest ’ne App und hast ein Kaufmenü. Das ist wie auf Amazon shoppen. Das ist kein Problem.“ EU-weit würden Dealer Drogen und Medikamente in Paketen versenden, bestätigt in der Sendung Christine Straß, Pressesprecherin beim Hauptzollamt Flughafen Frankfurt: „Viele Medikamente kommen über den Postweg. Jeder, der sich illegal eine Pille besorgen will, der wird das auch schaffen.“
Anja trauert um ihren Sohn Nico. (Foto: Sandra Philipp) Ein paar Wochen nach seiner Offenbarung lässt Nico sich auf einen stationären Entzug ein, den er fünf Tage später wieder abbricht. „Ein großes Problem waren für ihn die Benzodiazepine“, davon ist Anja überzeugt. Er habe unterschätzt, wie schnell sie süchtig machen. „Benzodiazepine sind Glücklichmacher. Sie nehmen dem Konsumenten sofort alle Ängste, Sorgen und dunkele Gedanken“, berichtet Suchtberater Hundler.
Zu Einnahmebeginn oder bei hoher Dosierung schirmen diese Medikamente stark vom Alltagsgeschehen ab – quasi die rosarote Brille für die Psyche. „Sie dämpfen rasch Erregung, Angst- und Panikattacken“, erklärt der ZfP-Mediziner Herwig. „Weshalb ihr Einsatz in der psychiatrischen Akutbehandlung unter ärztlicher Aufsicht ihre Berechtigung hat.“
Benzodiazepine machen schnell süchtig. (Foto: Monika Skolimowska/dpa) Weil Benzodiazepine ein hohes Abhängigkeitspotenzial haben, sollten sie Patienten nur über einen kurzen Zeitraum von ein bis zwei Wochen verabreicht werden, erklärt Herwig. „Langfristig behandelt man Ängste, Panik und Schlaflosigkeit eher mit Antidepressiva.“
In der Entwöhnung seien sie eines der Medikamente mit dem höchsten Leidensdruck. „Erst vier bis sechs Wochen nach der letzten Einnahme ist man mit dem körperlichen und psychischen Entzug durch“, sagt Herwig. Das hänge mit ihrer Wirkweise zusammen. Denn Benzodiazepine binden an die Rezeptoren, also die Andockstellen im Gehirn, des körpereigenen, erregungsmindernden Botenstoff GABA (Gamma-Aminobuttersäure).
Gehirn kann sich nicht mehr selbst beruhigen
„Und weil die Rezeptoren dann abgebaut werden, kann sich das Gehirn nach längerem Konsum von Benzodiazepinen nicht mehr selbst beruhigen“, versucht der Psychiater die Wirkweise einfach darzustellen. „Im Entzug steigt die innere Unruhe, der Druck, die Ängstlichkeit und es dauert mehrere Wochen, bis wieder genügend GABA-Rezeptoren aufgebaut sind.“
Benzodiazepin-Abhängige seien häufig kaum dazu bereit, im Anschluss an den körperlichen Entzug eine Suchttherapie in Angriff zu nehmen und an den Ursachen zu arbeiten, erzählt Christian Sauter, der ebenfalls bei der Caritas Bodensee-Oberschwaben arbeitet. „Sie wollen keine Angst mehr empfinden und sie wollen sich nicht ihren negativen Gedanken stellen.“ Es sei, als wollten sie keine realen Gefühle mehr empfinden, erklärt der Suchtberater aus seiner praktischen Arbeit.
Diesen Stein hat Anja für Nico bemalt und ihm ans Grab gelegt. (Foto: Sandra Philipp) Der Leidensdruck im Entzug ist also hoch – zu hoch für Nico. Er entscheidet sich für die Drogen. Was er alles konsumiert, das weiß seine Mutter nicht. Doch in der Folgezeit lernt sie viel über die Suchtmittel. Zum Beispiel als Nico ihr erzählt, wie man sich nach dem Konsum von Heroin fühlt: „Mama, da fühlt man sich so wohlig und geborgen. Da braucht man keine anderen Menschen mehr.“ Die Offenbarung schmeckt ihr bitter. Schockiert sie.
Es folgt der Versuch einer ambulanten Entgiftung. „Das war die Hölle – für ihn und für mich“, erzählt Anja. Nico hat massive Schlafstörungen, Schweißausbrüche, Zittern. „Mein Herz blutete, ihn so zu sehen, doch ich konnte ihm nicht helfen.“ Ein Jahr hält Nico durch. Geht auch arbeiten. Dann kann er nicht mehr.
Mit epileptischen Anfällen im Krankenhaus
Er versucht es mit einem weiteren stationären Entzug – bricht ihn nach einer Woche ab und verschwindet. „Wir wussten nicht, wo er war“, blickt Anja zurück. Nach einer Woche taucht er wieder auf. Erzählt, er sei in Freiburg gewesen und habe dort schlimme Dinge mit Drogen gesehen, die er selbst nicht erleben will. Es folgt, so beschreibt die Mutter, ein fürchterliches Auf und Ab. Immer wieder muss Nico mit epileptischen Anfällen durch den Konsum von diversen Drogen ins Krankenhaus.
Dann verschwindet er für mehrere Monate. Seine Familie hört nichts von ihm. „Die Angst, nicht zu wissen, wo dein Kind ist, ob es überhaupt noch lebt. Das war die Hölle“, erzählt Anja stockend. Vier Monate später meldet er sich. Er ist in Frankfurt und Teilnehmer eines Methadonprogramms. Doch dann kommt es zum Eklat. Wegen zu viel Beikonsum fliegt Nico aus dem Programm. Er droht, sich vor den ICE zu werfen.
„Mein Herz blieb stehen. Ich rief sofort die Polizei und die Sozialarbeiterin in Frankfurt an. Sie suchten und wir hörten 16 Stunden lang nichts.“ Detailliert schildert Anja diese Zeit, in der sie durch die Hölle geht und nicht weiß, ob ihr Sohn überhaupt noch am Leben ist.“ Schlussendlich finden die Suchenden Nico. Auf richterliche Anweisung kommt er in die Psychiatrie. Nach einer Woche wird er entlassen und verschwindet erneut.
Die folgenden Monate verbringt Nico in Berlin, lebt dort auf der Straße. „Immer wieder stellte ich mir vor, wie er hier zu Hause sein könnte“, sagt Anja. „Und es tat im Herzen weh, dass er diesen Weg eingeschlagen hatte. Und ich als Mama konnte nichts daran ändern.“
Nico stirbt in Berlin
In dieser Zeit ist die Angst ihr ständiger Begleiter. „Ich fürchtete mich davor, dass Nico es nicht schaffen könnte. Dass eines Tages die Polizei vor der Tür stehen würde, um mir zu sagen, dass er gestorben ist.“ Und dann kommt es so. Anfang August 2022 überbringen zwei Polizisten die schreckliche Nachricht. Nico wurde in Berlin tot aufgefunden. Für Anja bricht eine Welt zusammen.
Heute, zweieinhalb Jahre später, will Anja aufklären. Sie will den Blick schärfen, wie allgegenwärtig Drogen auch im ländlichen Raum. Und sie wünscht sich, dass es nicht mehr so einfach ist, an Benzodiazepine heranzukommen: „Da muss sich was ändern, das ist unglaublich wichtig.“
Quelle: Schwäbische
https://www.schwaebische.de/regional/bodensee/friedrichshafen/mutter-erzaehlt-so-starb-mein-kind-an-drogen-news-3255924